Es war einmal vor langer Zeit. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, es ist angenehm warm und eine leichte Sommerbrise fährt durch das Blätterkleid der Bäume in der Nähe. Inmitten dieser Idylle steht ein einsamer Mann in der Blütezeit seiner Existenz. Er ist groß gewachsen, ihn umgibt eine einzigartige Aura, sein Astralkörper kommt heute im gleißenden Licht der Sonne besonders gut zur Geltung. Wer es schafft, seine Augen kurz vom Anblick seiner makellosen körperlichen Erscheinung zu entfernen, der erblickt auf der einen Seite seines Kopfes einen grünen Ohrring und auf dem Bauch seines Rennoveralls die Aufschrift „S. Zeisberg“. Ein Mann, der scheinbar alles hat: gutes Aussehen, eine unverwechselbare Ausstrahlung, die Frauen liegen ihm zu Füßen. Doch das allein reicht ihm nicht. Er spürt, dass ihm irgendetwas fehlt und ehe er sich versieht, verlieren seine Füße den Kontakt zum Boden. Eine geheimnisvolle Kraft reißt ihn aus dieser Szene von Idylle und Harmonie heraus und er steigt empor in Richtung Himmel zur grünen Wolkenlandschaft über ihm.
Oben angekommen kann er seine Füße auf den weichen, aber dennoch stabilen Wolken absetzen und schaut hinaus in die weite Ferne. Um ihn herum sieht er nichts außer den unendlichen Horizont. Er verfällt in eine leichte Panik: „Wie bin ich hierhergekommen? Und warum bin ich hier?“, fragt er sich, da erscheint ihm eine transparente Gestalt. „Hallo“, begrüßt ihn das mysteriöse Wesen. „Du fragst dich sicher, warum du hier bist. Ich bin der liebe Gott, du suchst deinen Platz im Leben und ich bin hier, um dir zu helfen, diesen zu finden.“ Stephan schaut etwas verdutzt drein und studiert die Erscheinung der fremden Gestalt beim näheren Hinsehen etwas genauer. „Ein bisschen kleiner als ich, keine Haare auf dem Kopf, im Gesicht eine verblüffende Ähnlichkeit mit Joseph Gordon-Levitt, du bist nicht der liebe Gott, du bist Norman.“ Der liebe Gott lacht: „Ich bin eine Projektion deines Unterbewusstseins. Ich habe kein Erscheinungsbild im eigentlichen Sinne. Ich sehe so aus, wie du dir wünschst, dass ich aussehe.“ Dann fügt er hinzu: „Außerdem haben wir das Jahr 2001. Du kennst Norman noch gar nicht.“ Stephan hat ein riesiges Fragezeichen im Gesicht, bis die transparente Gestalt fortfährt: „Ich nehme dich mit auf eine Reise durch die Zeit und wenn deine Reise vorbei ist, befindest du dich hoffentlich dort, wo du sein möchtest. Höre einfach nur auf dein Herz und der Weg wird dich finden und nicht du den Weg.“ Stephan versteht zwar nur Bahnhof, seine Neugier ist aber geweckt worden. Also versucht er, den Anweisungen zu folgen und stellt sich vor, was er in seinem Innersten begehrt. Da erschafft sich plötzlich auf einer der grünen Wolken vor ihm ein Kart wie von selbst. Das Rauschen des Windes in den Baumkronen verschwindet und weicht einem aufheulenden Motor. Stephan erschreckt sich und wirft dem übernatürlichen Wesen einen fragenden Blick zu. Dieses nickt ihm zu und zeigt auf das gerade erschienene Fahrzeug. Stephan läuft hinüber, nimmt Platz und rutscht ein paar Mal in seinem Sitz hin und her. Dabei bemerkt er, wie sich wie von Geisterhand auf einmal Kartschuhe um seine Füße und Rennhandschuhe um seine Hände erschaffen. Nur einen Augenblick später trägt er plötzlich einen schwarz-grünen Helm auf dem Kopf. Instinktiv klappt er das Visier herunter und betätigt zum ersten Mal das Gaspedal.
Stephan kann sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so viel Glück und Erfüllung empfunden hat. Das Gefühl von Geschwindigkeit, das Vibrieren an seinen Händen und die Geräusche des Motors sind wie Musik in seinen Ohren. Schnell wird klar, dass ihm vom lieben Gott auch ein gewisses Talent für die Sache mitgegeben worden ist. Er lernt in rasantem Tempo, das Kart fährt schneller allein durch seine Vorstellungskraft und vor ihm erschafft sich die Strecke, die er fährt, wie von selbst. Lange Vollgaspassagen wechseln sich mit herausfordernden S-Kurven ab. Hier und da wartet ein harter Bremspunkt, so dass er die erneute Beschleunigungsphase, die darauf folgt, voll und ganz genießen kann. An manchen Stellen kann er sogar über die Grenzen der grünen Wolken hinausgehen, um mit noch mehr Geschwindigkeit durch diverse Kurvenpassagen zu sausen. An wiederum anderen Stellen bauen sich die Wolken um ihn herum wie Wände auf, so dass er die Richtungswechsel schnell, präzise und auf den Punkt genau vollziehen muss.
Es dauert aber nicht lange, da reicht Stephan das pure Gefühl von Tempo nicht mehr. Er will sich mit anderen messen. Er sehnt sich nach Wettkampf. Wieder lässt er seiner Fantasie freien Lauf und plötzlich erscheinen um ihn herum mehrere Menschen gleichzeitig, die genau wie er eine Rennausrüstung tragen und gewillt sind, das Kart, in dem sie sitzen, schneller zu bewegen als er selbst. Stephan fechtet seine ersten intensiven Duelle gegen seine Kontrahenten aus und es bestätigt sich das, was man bereits zu Beginn seiner Reise hat annehmen können: Der liebe Gott, der ihn nach wie vor auf seiner kompletten Reise begleitet und die Geschehnisse von etwas weiter oben beobachtet, hat ihn mit einem besonderen Talent ausgestattet. So gelingt es Stephan zumeist, seine Gegner hinter sich zu lassen. Er weiß nicht mal genau, gegen wen er da fährt. Zu verschwommen und unscharf nimmt er die Fahrer, die ihn umgeben wahr, aber es ist ihm gleichgültig, solange er gewinnt. Er steigt zum Leader der Gruppe auf und darf sich ab sofort „Präsi“ nennen. Die Gefährten, die er um sich herum geschart hat, sehen zu ihm auf. Er ist derjenige, der entscheidet, wo gefahren wird und er ist derjenige, den es zu schlagen gilt.
Natürlich genießt er diesen Ruhm, aber auch dieses Mal ist das Gefühl von Erfüllung, das er kurzfristig empfindet, nur von kurzer Dauer. Er sehnt sich nach stärkerer Konkurrenz und will sich mit noch besseren Fahrern messen. So schreitet seine Reise weiter voran und er passiert mit seinem Kart auf der grünen Wolkenlandschaft ein Tor, das von einem großen Bogen umgeben wird. In diesem steht eine Jahreszahl geschrieben: 2007. Da taucht auf einmal ein Fahrer auf, der nicht wie die anderen im gewohnten Sicherheitsabstand hinter ihm herfährt. Dieser Fahrer ist anders: Er besitzt nicht nur die Frechheit, extrem dicht an ihn heranzufahren, nein, er besitzt sogar die Dreistigkeit, den Präsi zu überholen und vor ihm herzufahren. Stephan fühlt sich herausgefordert und jagt dem unbekannten Fahrer hinterher. Wie auch bei den anderen Rennteilnehmern kann er nicht genau erkennen, um wen es sich dabei handelt, der es wagt, ihm den Sieg auf der Rennstrecke derart streitig zu machen. Auch diesen Menschen nimmt er eher als verschwommene Gestalt wahr. Lediglich die schwarz-rot-weiße Farbe seines Outfits fällt ihm auf. Es entbrennt ein heißes Duell zwischen den beiden. Dahinter bleiben in ihrer Rolle als Nebendarsteller immer wieder Fahrer zurück und es kommen immer wieder neue hinzu, um das Fahrerfeld in seiner Gesamtheit zu ergänzen, doch an der Spitze tobt zwischen Stephan und dem geheimnisvollen Unbekannten Jahr für Jahr ein Kampf um den Thron: Die Torbögen zu den Jahren 2008 und 2009 durchquert der Unbekannte vor Stephan. Als sie den Torbogen zum Jahr 2010 durchqueren, hat der Präsi die Nase vorn. Der Fahrer im schwarz-rot-weißen Outfit schlägt zum Jahr 2011 zurück, die Zufahrt auf den 2012er Bogen kann Stephan wieder für sich entscheiden. Bei der Zufahrt auf den folgenden Torbogen tobt wieder ein erbitterter Kampf zwischen den beiden. Im Reich der grünen Wolken wechseln sich wieder anmutige S-Kurven, mit nervenaufreibenden Schikanen, Vollgaspassagen und Adrenalin hochtreibenden Stellen ab, an denen links und rechts abermals die Wolkenwände lauern. Da nimmt der Präsi eine Stimme wahr, die von einem der Fahrer hinter ihm stammen muss. Verantwortungsbewusst geht er vom Gas und lässt den Unbekannten vorerst davonziehen, um besser verstehen zu können, was ihm aus der Ferne zugerufen wird. Zur gleichen Zeit nähert sich ihm ein Schlangenlinien fahrendes Kart mit quietschenden Reifen. Das Kart berührt mehrmals sein Heck, will sich neben ihn setzen und ihn sogar von der Strecke drücken, bis Stephan endlich verstehen kann, was genau da hinter ihm geflucht wird. „Oh nein, nicht schon wieder Rudi, die Rammsau!“, hört er aus einer gewissen Distanz einen Fahrer grölen, der sich nur durch seine Arbeitshandschuhe und der GoPro auf seinem Helm von den anderen verschwommenen Fahrern unterscheidet. In seiner Pflicht als Präsi fährt er mit dem aggressiv fahrenden Kart ein wildes Rad an Rad Duell. Die beiden sind nebeneinander und lehnen ihre Fahrzeuge jeweils an dem des anderen an. Dann macht Stephan eine ruckartige Lenkbewegung und stößt seinen Gegner damit von der Wolkenstrecke. Er schaut dem fallenden und immer kleiner werdenden Kart hinterher, winkt ironisch und quittiert den Vorfall mit einem süffisanten: „Auf Nimmerwiedersehen!“
Sein geheimnisvoller, ebenbürtiger Gegner hingegen hat in der Zwischenzeit die Zufahrt zum Jahr 2013 als Erster durchquert, aber der Präsi, der durch seine vorangegangene Aktion viel Jubel von seinen Mitstreitern hinter ihm erntet, fasst neuen Mut, tritt sein Gaspedal so fest wie er kann und lässt sein Gefährt durch seine bloße Willenskraft erneut ungeahnte Geschwindigkeiten erreichen. In Windeseile holt er seinen hartnäckigen Kontrahenten ein und zieht mit gewaltigem Überschuss an ihm vorbei. Es macht fast den Anschein, als hätte er seinen einstigen Erzfeind endgültig hinter sich gelassen, bis ein neuer Herausforderer auftaucht: Es ist ein Mann, den Stephan noch weniger einordnen kann als seinen vorherigen Gegner. Genau wie die anderen Fahrer hinter ihm nimmt er ihn nur als schwarze Silhouette wahr. Er trägt einen schwarzen Overall, schwarze Handschuhe und einen schwarzen Helm. Einzig und allein ein winziges, grünes und wieder einmal nicht näher definierbares Detail an seinem Helm unterscheidet ihn von den anderen dunklen Gestalten hinter ihm. Seine Präsenz ist ebenso nichtssagend und beängstigend wie sein Renntempo. Nachdem er Stephan überholt hat, sieht es so aus, als könne Stephan versuchen, was er will – der neue Herausforderer scheint ihm immer einen Schritt voraus zu sein. An den Überholpunkten, die der Präsi sich vorstellt, blockt sein Gegner jeden Angriff ab, in den schnellen Kurvenpassagen ist er grundsätzlich einen Hauch schneller als er selbst und Fehler? Fehlanzeige. Sie setzen ihr Rennen fort und passieren Torbogen für Torbogen. 2014, 2015, 2016 und auch 2017 – Jedes einzelne Tor durchquert er knapp hinter dem Mann im schwarzen Outfit. Jahr für Jahr wird Stephan etwas angespannter. Zwischendurch verliert er sogar die Selbstbeherrschung und fährt impulsiv aus der Haut: „Wie kann das sein? Ich weiß, dass ich schnell bin. Ich weiß, dass ich gut fahre. Und außerdem ist das hier doch mein Weg, wo mein Wille Gesetz ist. Und ich will gewinnen. Also warum gewinne ich nicht?“ Als er auch auf dem Weg zum 2018er Torbogen den Kürzeren gezogen hat, hält er auf halbem Weg zum Tor mit der Aufschrift „2019“ kurz inne. Womöglich ist er zu verbissen zu Werke gegangen und außerdem zwickt es komischerweise in seinem Rücken, so dass sich diese Pause nicht nur als wohltuend für seine Seele, sondern auch für seinen Körper gestaltet. Er setzt sich kurz an den Rand des grünen Wolkenmeers, als ihm erneut die transzendente Gestalt erscheint. Stephan drängt sich eine Frage auf: „Warum? Warum schaffe ich es nicht mehr, diesen Mann zu besiegen?“ Der liebe Gott entgegnet: „Ich kann mich nur wiederholen: Dies ist ein Prozess. Du bist hier, um das zu finden, was du aus tiefster Seele begehrst und nicht, um das zu erzwingen, was du glaubst, zu wollen.“ „Ach, dann lass mich doch in Ruhe, wenn du mir nicht helfen willst.“, erwidert der Präsi genervt. „Hast du dich eigentlich schon mal umgeschaut? Oder schaust du nur nach vorne?“, fragt ihn das geheimnisvolle Wesen mit einem frechen Grinsen, bevor es wieder verschwindet. Stephan steht auf und dreht den Kopf zu beiden Seiten. Er bemerkt, dass dort noch andere Dinge zu sehen sind als nur die Rennstrecke. Dort, wo er sich gerade befindet, meint er etwas zu erkennen, das wie ein etwas älteres Auto aussieht. Doch sein genauer Anblick bleibt ihm ebenso wie die Gestalten der anderen Fahrer immer noch verborgen. Trotzdem möchte er seine Reise jetzt fortsetzen und beschließt, es fortan etwas entspannter angehen zu lassen. Der Unbekannte im schwarzen Overall hat das Tor, das in seinem Bogen die Zahl „2019“ trägt, längst als Erster hinter sich gelassen, aber der Präsi holt mit seiner neu gewonnenen Lockerheit in rasanten Schritten auf. Zudem nimmt er sich gelegentlich die Zeit, auf dem Weg zum 2020er Tor die Umgebung seiner grünen Wolkenstrecke präziser auszukundschaften. Die Bilder sind zwar immer noch verschwommen, jedoch schafft er es, wenn er sich ganz stark auf diese konzentriert, die Eindrücke um ihn herum einzufangen. Etwas, das aussieht wie eine Diskothek lässt ihn auf der einen Seite den Klang von Musik aus den 90ern vernehmen. Auf der anderen Seite sieht er drei bezaubernde Mädchen, die ein familiäres Gefühl in ihm auslösen, in schwarz-grünen T-Shirts. Nur ein paar Meter weiter bemerkt er ein fabrikartiges Gebäude, auf dessen Parkplatz etwas aufgemalt ist, das man auch für eine Rennstrecke halten könnte. Er fährt noch weiter voraus und beobachtet jetzt zu seiner Linken eine klein gewachsene Frau, die völlig aufgelöst im weißen Kleid am Traualtar steht. „Wir haben abgemacht, dass du im Anzug heiratest!“, schreit sie ihren Bräutigam an, der sich im Rennanzug gekleidet direkt vor ihr befindet.
Dieser versteht die Welt nicht mehr: „Du hast nicht gesagt, in welchem Anzug.“, antwortet er. Stephan schmunzelt und erblickt zu seiner Rechten Menschen, die ausgelassen lachen. Zusätzlich schleicht sich der angenehme Geruch von Pizza in seine Nase. Der Präsi weiß nicht einmal genau, warum, aber das Empfinden von außerordentlichem Glück kehrt zu Stephan zurück. Er trägt ein breites Grinsen unter dem Visier seines Helms und er reitet auf dieser Welle von Euphorie. Erneut gelingt es ihm, diese positive Energie allein durch die Kraft seiner Gedanken in einen drastischen Geschwindigkeitsschub umzumünzen. In überirdischem Tempo nähert er sich dem Mann im schwarzen Overall. Die beiden liefern sich bis zum finalen Torbogen ein Nerven zerreißendes Kopf an Kopf Rennen, bis Stephan schließlich zum entscheidenden Überholmanöver ansetzt, die Oberhand gewinnt und das Tor knapp vor seinem ärgsten Rivalen passiert.
Der Präsi jubelt ausgelassen. Er hat es endlich geschafft. Nur wenige Meter weiter endet die Wolkenstrecke und mündet in eine kleine Anhöhe, an deren Fuß Stephan sein Gefährt bei der ersten Gelegenheit abstellt. Hinter ihm versammeln sich alle anderen immer noch nicht klar erkennbaren Kartfahrer einschließlich des geheimnisvollen Fahrers, den er just bezwungen hat, in seinen Händen trägt er auf einmal einen riesigen, goldenen Pokal, vor ihm wartet am höchsten Punkt des Hügels ein weiteres Tor auf ihn. Im Gegensatz zu den Toren, die er schlicht hat durchfahren können, unterscheidet sich dieses aber in einem entscheidenden Punkt von den anderen: Es ist vergittert. Jenseits des Tores erblickt Stephan das Ende der grünen Wolkenlandschaft sowie den abendroten Sonnenuntergang. Der Anblick ist atemberaubend, weshalb er sich diesem im festen Glauben, sein Ziel erreicht zu haben, selbstbewusst nähert. Als er aber am Tor rüttelt, muss er feststellen: verschlossen! Frustriert rüttelt er immer und immer wieder an dem Tor und kann nicht akzeptieren, dass ihm die wunderschöne Landschaft jenseits der Gitterstäbe tatsächlich verwehrt bleiben soll. Da erscheint ihm die göttliche Gestalt erneut und der Präsi konfrontiert sie umgehend: „Das hier ist das Ende. Ich habe auf meine Umgebung geachtet, bin dadurch viel lockerer an die Sache herangegangen und ich habe gewonnen. Ich habe in all der Zeit 52 Rennsiege, 53 zweite Plätze und 31 dritte Plätze eingefahren. Ich bin der einzige Fahrer, der sieben Meisterschaftstitel auf seinem Konto hat und bin damit der erfolgreichste Fahrer der Truppe. Also: Warum darf ich hier nicht durch?“ Das transzendente Wesen sieht Stephan mit ernster Miene an und spricht: „Du hast es immer noch nicht ganz verstanden, oder? Weil der Sieg allein eben nicht reicht, um dieses Tor zu passieren.“ Stephan kann diese Antwort nicht begreifen. Wenn er es nicht verstanden hätte, warum hat er dann das Rennen gewonnen? Niedergeschlagen wirft er den Pokal zur Seite und fällt vor dem Tor auf die Knie. Doch plötzlich, als er denkt, dass seine komplette Reise umsonst war, verspürt er ein aufbauendes Klopfen auf seiner Schulter. Der geheimnisvolle Unbekannte im schwarzen Rennoverall, sein härtester Rivale, hat sich ihm genähert, tritt nun vor ihn und streckt wohlwollend die Hand nach ihm aus. Intuitiv greift der Präsi nach der Hand und genau in dem Moment, in dem sich ihre Hände berühren, trifft ihn die Erleuchtung wie ein Schlag: Seine Gedanken werden klarer, die Bilder um ihn herum werden schärfer: Auf einmal durchlebt er die finale Phase des Rennens im Schnelldurchlauf erneut und erkennt vor seinem geistigen Auge auch alle Nebenschauplätze, die ihm zuvor noch verborgen geblieben sind, in bestechender Schärfe: die Oldtimer Tour aus dem Sommer 2018, die Cincinnati Revival Partys mit seinen Teamkameraden, die Wochenenden mit seinen Töchtern, den Saisonabschluss aus dem Sommer 2019 vor der Zwiebelfabrik, die Hochzeitsfeier von Anja und Udo und all die Abende nach den jeweiligen Rennen am Monatsanfang, an denen man noch gemeinsam Pizza gegessen hat. Er umgreift die Hand nun ganz fest mit weit aufgerissenen Augen. Das grüne Detail auf dem Helm seines schwersten Gegners, das ihm zuvor schon aufgefallen ist, kommt ihm nicht mehr schwammig vor. Er liest auf seinem Helm den grünen Schriftzug „Kart-Opa“ und blickt unter dem Visier in ein vertrautes, freundliches Gesicht. Dann schaut er hinter sich und kann jetzt auch die anderen Fahrer genau wie ihre individuellen Rennoutfits eindeutig und scharf wahrnehmen. „Natürlich.“, murmelt Stephan sichtlich ergriffen vor sich hin. „Wie konnte ich das übersehen?
Es ist nicht das Kartfahren an sich, es ist nicht das Gewinnen – obwohl Gewinnen auch ziemlich geil ist – es sind die Menschen, mit denen ich diese Erfahrungen teilen will.“ Peter zieht seinen Freund hoch und legt seinen Arm um die Schulter seines Präsis. Stephan blickt ein letztes Mal zum übernatürlichen Wesen herüber. Ohne ein weiteres Wort lächelt die transparente Erscheinung erleichtert, schaut nach oben, breitet die Arme aus und löst sich in Luft auf. Danach berührt der Präsi die Gitterstäbe des verschlossenen Tores, indem er sanft seine Hand auflegt. Die Gitterstäbe verschwinden, Peter lässt Stephan den Vortritt und so durchschreitet er das Tor nach kurzem Zögern mit ruhigem Schritt. Als er es durchquert, wird er von einem grellen Licht geblendet. Alles um ihn herum erstrahlt und färbt sich weiß, so dass er seine Augen kurz schließen muss, bis das Licht an ihm vorbeigezogen ist. Wenig später bemerkt er, dass die Intensität des Lichts nachlässt. Er traut sich, seine Augen langsam wieder zu öffnen. Der Präsi schaut sich um und realisiert etwas ungläubig, dass er sich nun nicht länger im Reich der Wolken, sondern in einem nicht näher definierten Garten im schönen Ibbenbüren wiederfindet. Um ihn herum befinden sich jetzt einige andere Menschen, die er klar erkennen kann und die ihm bekannt vorkommen. Eine Art Feier scheint hier im vollen Gange zu sein und er wundert sich: „Wie bin ich denn jetzt hierhergekommen?“, während er die verschiedenen Geschehnisse und Taten des gut gelaunten Partyvolkes inspiziert.
Hinter ihm tritt Mario die Tür zum Garten mit brachialer Gewalt ein und gesellt sich nach Jahren der Abwesenheit zu den anderen als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Etwas abseits beobachtet er, wie sich ein Mädchen, das auf ihrem Shirt die Aufschrift „Präsi Kind 1“ trägt, schon das zwölfte Glas Cola Korn in den Rachen schüttet und langsam ihre Fähigkeit fehlerfrei zu sprechen verliert. Daneben bekommt das Mädchen mit der Aufschrift „Präsi Kind 2“ nichts von dem Trinkverhalten ihrer Schwester mit. Sie ist in ihr Handy vertieft und scrollt bereits zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten geringfügig gelangweilt durch ihren Instagramfeed, ohne dabei irgendetwas zu entdecken, das sie nicht schon gesehen hat. Stefan Kröger hat es sich in seiner Jogginghose auf dem nahegelegenen Sofa gemütlich gemacht und genießt den einen oder anderen Zug von seiner Zigarette. Den direkt neben ihm sitzenden Andi fragt er, warum er denn die letzten 47 Rennen verpasst habe. Dieser versucht seine Teamkameraden zu besänftigen und vertröstet sie mit etwas unsicherer Stimmlage: „Tut mir wirklich leid, aber nächstes Mal bin ich ganz sicher dabei, versprochen.“ Auch Tobi und Claas haben dort Platz genommen und diskutieren ausgelassen über die Ereignisse des letzten Formel 1 Rennens. Tobi erklärt, warum Sebastian Vettel auch heute noch der beste Fahrer im Feld ist und dass es doch offensichtlich sei, dass Lewis Hamilton immer nur Glück habe. Als anschließend über die Unfälle des besagten Rennens gesprochen wird, kommentiert Claas die Vorkommnisse nun schon zum wiederholten Mal mit einem humorvollen: „Da hat man es doch wieder gesehen. Erst ging ihm die Strecke aus und dann das Talent.“ Mittendrin erblickt Stephan eine aufgebrachte Jara, die versucht, die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen, indem sie sich schon seit 30 Minuten über ihren Freund echauffiert. Sie befindet sich so sehr im Tunnel und redet sich so sehr in Rage, dass sie gar nicht bemerkt, dass ihr schon seit 29 Minuten niemand mehr zuhört. Die Show wird ihr nämlich von ihrer eigenen Mutter gestohlen. Tanja reißt mal wieder einen zweideutigen Witz nach dem anderen und zieht damit vor allem die Blicke der männlichen Anwesenden auf sich. Sina tippt währenddessen Benni auf die Schulter, rollt mit den Augen und flüstert ihm ins Ohr: „Wo sind wir hier nur gelandet?“ Frank, der mit Sonnenbrille auf der Nase sein Pokerface bewahrt, hält sich vorerst aus allem heraus und genehmigt sich entspannt grinsend ein Wässerchen, während ihm sowohl von links als auch von rechts von seinen zahlreichen Groupies mit metergroßen Blättern Luft zugefächert wird. Peter und Vanessa hingegen haben sich für den Abend viel vorgenommen. Sie wollen so richtig einen los machen, stoßen mit ihren Flaschen an, überkreuzen die Arme und trinken schon ihre siebte Fassbrause auf ex. Darüber hinaus haben sie auf dem kompletten Grundstück eine riesige Landkarte ausgebreitet und besprechen mit Christian und Melanie, die sich mit Zeigestock und Edding bewaffnet haben, die Route für die nächste Motorradtour. Unterdessen machen sich Olli, Alex und Gioia auf der Tanzfläche zu einem Backstreet Boys Klassiker mit ihren minder professionellen Tanzmoves einmal mehr zum Obst der Woche. Kurz darauf beginnt das nächste Lied. Die wohlklingende Stimme von Helene Fischer ertönt, Anja springt auf und versucht akribisch, ihren Ehemann mit auf die Tanzfläche zu zerren. Nach einem kurzen Moment des Widerstandes gibt Udo auf und lässt sich dazu hinreißen, seine Frau zu einem Tanz aufzufordern, sucht aber immer wieder den Blickkontakt zu Alex, weil er insgeheim hofft, von diesem abgelöst zu werden. Lechzend nach mehr saugt Stephan all diese Eindrücke auf und stellt nun fest, wie sich ein weiches sowie warmes Gefühl in seiner Bauchgegend ausbreitet. Es ist das Gefühl von Geborgenheit, das Gefühl von Heimat, nach dem er sich in all der Zeit gesehnt hat. In diesem Moment wird ihm klar: „Ich bin angekommen. Hier gehöre ich hin, hier bin ich Zuhause.“ Norman geleitet den immer noch leicht verwirrt um sich blickenden aber zufrieden lächelnden Präsi zu seinem Platz und hat die Zwischenzeit genutzt, jedem der Teilnehmer ein Getränk vorzubereiten, um die heiße Phase des Abends einzuläuten. Mit einer Mischung aus ängstlichem und angewidertem Blick nimmt jeder der Anwesenden den fast glasklaren Inhalt des Glases genauer unter die Lupe, den Norman allen Beteiligten als „Wodka Energy Mischung“ verkaufen will. Es handelt sich um die Norman Spezialmischung in seinem berühmt berüchtigten Mischverhältnis 70/20/10: 70% Wodka, 20% Energy, 10% Mordversuch.
Aber mutig und der Gefahr zum Trotz erheben die Kart-Hornets die Gläser und wenn sie daran nicht gestorben sind, dann fahren sie noch heute.
ENDE